Die Hamburger Institution ist seit 1993 aktiv, gilt mit BLUMFELD und DIE STERNE als Begründerin der sogenannten Hamburger Schule oder auch deutschen Diskurspop, jedes neue Album ist ein Ereignis in der deutschsprachigen Popöffentlichkeit. Hier haben wir es nun mit dem 13. Studioalbum der Band, dem Nachfolger von „Die Unendlichkeit“ aus dem Jahr 2018 zu tun.
Ihrem Werk „Neues“ hinzuzufügen und auch spannendes „Neues“ über die Band zu schreiben wird beständig schwieriger. Ist aber ja auch nicht zwingend nötig. Die Band hat ihren Stil, variiert und entwickelt diesen sanft seit bereits, ja, Jahrzehnten und das Gros der langgedienten Anhängerschaft bewegt sich inzwischen wohl um den 50er herum. Zum Beispiel Wiener Jungspunde die 1997 mit TOCOTRONIC backstage Bier getrunken haben. Damals jugendlich keck, jetzt knapp vor der Pensionierung? Das wird und hat sich eh schon alles verschoben, alt ist das neue jung oder mindestens egal. Unter uns Berufsjugendlichen zumindest. Die ja immer mehr werden. Die FAZ schrieb gar schon von „Kulturinventar“. Absolut passend.
Ich hatte immer ein gespaltenes Verhältnis zu TOCOTRONIC. Die politische Stoßrichtung ist die Meine, und wenn das eine Band ihrer Popularität verfolgt kann man das nur gut finden.
Die anti-machistische Attitüde (insgesamt der sogenannten „Hamburger Schule“) fand ich sogar trotz Heavy Metal Affinität äußerst erfreulich und denke, dass das psychologisch insbesondere für junge Männer im Schlund der (immer noch) grauenhaften Macho-Zwanghaftigkeit unserer Gesellschaft echt heilsamen Charakter haben kann. (Wie Jugendkulturen wie Emo, Goth und Grunge sicherlich teilweise auch.)
Das Abstrakte und die nicht selten damit einhergehende poetische Offenheit (Beliebigkeit?) ihrer Texte und eine gewisse intellektuelle Selbsterhöhung eines Teils der Fans war nervig. Ist inzwischen sicherlich besser geworden weil so viele inzwischen dermaßen alt und somit (hoffentlich) reifer geworden sind.
Abgesehen von all dem: Aber bittesehr noch jedes TOCOTRONIC Album lieferte mindestens zwei, drei Songs die einfach Superhits sind. Vom Songwriting her 1A! Und eine Handvoll Textpassagen, Zeilen, Phrasen die ins Herz treffen, politisch oder emotional, für die Ewigkeit sind!
Als linke Intellektuelle der 90er und 2000er sind die Hamburger zwangsläufig Vertreter der Postmoderne. Ein Aspekt, der vom neuen Album am ehesten als erwähnenswert erscheint. Postmoderne, augenzwinkernde Referenziererei zieht sich durch, „Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus“ inklusive Skater-Video = SONIC YOUTH (und meinetwegen auch Ödön von Horváth), beinahe plump offensichtlich, da muss man nicht mal um das vergleichsweise krachigere Anfangswerk der Band wissen. Aber natürlich cool, weil: unantastbarer Slogan und SONIC YOUTH.
Wie erschreckend aktuell der Albumtitel plötzlich wurde hätte sich niemand ausgemalt. Unfassbar! Aber auch hier: das gleichnamige Antikriegsplakat der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz. Auf den Slogan können sich natürlich alle einigen. Ist das dann schon beliebig? Augenzwinkernd? Vielleicht. (Ich denke nicht!)
Es finden sich noch einige mehr Beispiele von Aneignung, Hinweisen, wo man sich nicht sicher ist ob sich lustig gemacht wird oder gerade auf diese Weise auf Ernsthaftigkeit beharrt wird. (Weil zB. gegen Krieg oder Faschismus zu sein ist weder dumm noch naiv noch uncool, auch oder gerade wenn‘s maximal simpel formuliert wird!)
Das Ärgste ist für mich Song Nummer fünf, „Ich Tauche Auf“, ein Duett mit SOAP & SKIN welches sich inhaltlich (so denke ich) mit dem Umgang mit dem Tod geliebter Menschen auseinandersetzt. Eine wahnsinnig berührende Nummer, markerschütternd, ein Weltsong.
Insgesamt ist das Album sicherlich etwas ruhiger, persönlicher und emotionaler als der tocotronische Schnitt, klug, berührend, sicherlich auch unterhaltsam und: gut!
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